Hier der Artikel in Reintextform 1/2
»Ein Lebensmittel ist nicht automatisch ungesund, nur weil es hochverarbeitet ist«
Produkte wie Veggieschnitzel werden beliebter, aber sind sie auch gesund? Ernährungswissenschaftler Martin Smollich und Lebensmittelchemiker Daniel Wefers über Zusatzstoffe, »biologische Wertigkeit« und Hormone im Tofu.
SPIEGEL: Laut aktuellen Erhebungen sind pflanzliche Fleischalternativen buchstäblich in aller Munde. Kommen solche Produkte auch bei Ihnen in die Pfanne oder aufs Brot?
Wefers: Ich esse immer mal wieder ausgewählte Fleischalternativen und probiere natürlich aus beruflicher Neugier vieles, was gerade neu auf den Markt kommt. Es gibt mittlerweile zahlreiche Produkte, die wirklich akzeptabel schmecken.
Smollich: Bei mir ist das ähnlich, ich probiere auch aus beruflichen Gründen alles, was der Supermarkt hergibt. Privat esse ich diese Produkte allerdings nicht regelmäßig. Da ich ohnehin keine verarbeiteten Fleischprodukte esse, benötige ich dafür auch keinen Ersatz.
SPIEGEL: Manche Kritiker verschmähen Veggie-Alternativen als rein chemische Retorten-Produkte. Vegane Wurst wird mitunter als eine ultrahochverarbeitete Zumutung gesehen, die nur so vor fragwürdigen Zusatzstoffen trieft.
Smollich: Die Frage enthält schon mindestens zwei Missverständnisse. Die Studienlage zeigt ganz klar, dass ein Lebensmittel nicht automatisch ungesund ist, nur weil es hochverarbeitet ist. Man muss sich immer die konkrete Zusammensetzung anschauen. Diese Gruppe von Produkten ist extrem heterogen, das haben wir gerade noch einmal in einem wissenschaftlichen Übersichtsartikel gezeigt. Wenn man sich die einzelnen Kategorien der hochverarbeiteten Lebensmittel anschaut, sind nur für Softdrinks und verarbeitete Fleischprodukte negative gesundheitliche Effekte klar nachgewiesen.
SPIEGEL: Und das zweite Missverständnis?
Smollich: Bei der ernährungsmedizinischen Bewertung kommt es immer darauf an, womit man die Produkte vergleicht. Eine vegane Currywurst ist ebenso hochverarbeitet wie eine klassische Currywurst. Das ist eher ein psychologisches Phänomen: Bei der herkömmlichen Currywurst schaut niemand auf die Zutatenliste, ganz nach dem Motto: »Das haben wir schon immer so gegessen.« Die »chemisch« klingenden Zusatzstoffe, die vielen Menschen offenbar Angst machen, sind dort aber meist ebenso enthalten. Ich halte das insgesamt für ein Pseudoargument von Menschen, die üblicherweise kein Problem damit haben, »echte« verarbeitete Fleischprodukte zu essen.
Wefers: Dass die »Originalprodukte« in der Diskussion völlig ignoriert werden, kann ich auch nicht nachvollziehen. Es wird dann plötzlich ein Risiko etwa für bestimmte Verdickungsmittel herbeigeredet, die schon lange in verschiedenen Lebensmitteln verwendet werden und bisher kein Thema waren. Die Zusatzstoffe, die in der EU verwendet werden dürfen, sind generell intensiv geprüft und stellen kein plausibles gesundheitliches Risiko dar. Bei manchen »echten« Wurstwaren können sich hingegen durch die Pökelung potenziell krebserregende Nitrosamine bilden – und trotzdem werden sie von Menschen gegessen, die Angst vor Veggie-Schnitzeln haben. Das ist beeindruckend irrational.
SPIEGEL: Gelegentlich wird behauptet, dass es die Kombination der vielen Zusatzstoffe sei, die letztlich unvorhersehbare, negative Auswirkungen auf die Gesundheit hätte, ist das aus Ihrer Sicht plausibel, Herr Smollich?
Smollich: Theoretisch ist das immer möglich. Da sind wir in einem Bereich, in dem man Spekulation und Daten voneinander trennen muss. Die Frage ist hier, ob das biologisch überhaupt plausibel ist. Es ist schon aus statistischen Gründen nicht möglich, in der Zulassung von Zusatzstoffen Tausende Kombinationen zu untersuchen. Es wurde allerdings auch noch nie systematisch untersucht, ob etwas Schlimmes passiert, wenn man zum Dinkelbrötchen einen Kakao trinkt – trotzdem hat niemand davor Angst. Entscheidend sind letztlich »Real-World«-Daten, also etwa Ergebnisse von Beobachtungsstudien. Und da zeigt sich ganz klar: Diese Angst vor der Kombination von mehreren Zusatzstoffen ist unbegründet.
Wefers: Man hat in Lebensmitteln, ob natürlich oder verarbeitet, immer Mischungen von Tausenden Substanzen, da sollte man sich keine Illusionen machen. Man kann in Kaffee eine signifikante Anzahl an krebserregenden Stoffen nachweisen, die wir dann auch noch in Kombination aufnehmen – und trotzdem ist Kaffee insgesamt nicht schädlich. Man sieht also selbst bei solchen Lebensmitteln nicht immer ein klares Risiko – und es ergibt schlichtweg keinen Sinn, eine unsichtbare Gefahr bei mehrfach intensiv geprüften Stoffen heraufzubeschwören.
SPIEGEL: Man muss sich einiger lebensmitteltechnologischer Kunstgriffe bedienen, um etwa ein veganes Schnitzel herzustellen. Welche Zutaten und Zusatzstoffe verwendet die Industrie dafür, und warum ist das notwendig?
Wefers: Wenn man Fleisch imitieren will, ist die Basis in der Regel isoliertes pflanzliches Protein, etwa aus Soja, Weizen oder Erbsen. Diese Proteine werden dann, wenn man etwa ein Veggie-Schnitzel herstellt, texturiert. Das bedeutet, dass sie mithilfe von Druck, Hitze oder anderen Verfahren in Form gebracht werden, damit sie sich im Mund möglichst so anfühlen wie echtes Fleisch. Vor allem bei Produkten, die vom Verbraucher noch mal erhitzt werden, kommt zusätzlich Methylcellulose zum Einsatz. Dieser Stoff, der vereinfacht gesagt über die Modifikation von Cellulose aus Holz gewonnen wird, bildet beim Erhitzen ein Gel-artiges Netzwerk und hält die einzelnen Fasern oder Partikel zusammen. Und dann benötigt man natürlich noch Fett, Aromen, Salz und Gewürze. Das hört sich zunächst einfach an, es hat aber viele Jahre gedauert, diese Strukturen so hinzubekommen, dass sie wirklich mit Fleisch, also etwa einem Schnitzel, vergleichbar sind.
SPIEGEL: Lassen Sie uns näher auf die Proteinquellen eingehen. Kritiker behaupten, die Eiweiße in echten Fleischprodukten hätten eine höhere biologische Wertigkeit – die Zusammensetzung entspräche also eher derjenigen, die wir für Muskelaufbau und andere Funktionen benötigen.
Smollich: Diese seltsame Argumentation mit der biologischen Wertigkeit wird so häufig falsch verwendet, dass man schon von »ideologischer Wertigkeit« sprechen könnte. Der Begriff stammt aus den Zwanzigerjahren und dient vornehmlich dem Fleischmarketing. Wissenschaftlich ist das längst überholt, auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet diesen Begriff nicht mehr. Grundsätzlich beschreibt die biologische Wertigkeit den Aufwand, der nötig ist, um Nahrungsprotein in körpereigenes Protein umzubauen . Eiweiß von Säugetieren wie Kühen oder Schweinen ist den Proteinen im menschlichen Körper natürlich ähnlicher als pflanzliches Eiweiß. Grundsätzlich kann man den Bedarf aber ebenso gut über pflanzliche Proteine decken, man braucht davon lediglich eine etwas größere Menge.
SPIEGEL: Pflanzliche Proteine sind also gesundheitlich gesehen ebenso »wertvoll« wie tierische?
Smollich: Genau, man kann den gesundheitlichen »Wert« eines Proteins nicht allein nach einem Kriterium festlegen. Historisch gesehen war das Konzept der biologischen Wertigkeit sinnvoll, weil man in der Notsituation nach dem Ersten Weltkrieg herausfinden wollte, mit welchen Lebensmitteln man möglichst effizient Mangelzustände bekämpfen kann. Heute leben wir eher in einer Situation des Überflusses, in der Überernährung die meisten Probleme bereitet. Man muss das also im Kontext sehen und auch beachten, dass viele pflanzliche Proteinquellen noch andere Vorteile bieten. Wenn man etwa Kichererbsen isst, nimmt man dabei auch viele potenziell gesundheitsförderliche Substanzen wie Mineralstoffe, Vitamine, Ballaststoffe oder sekundäre Pflanzenstoffe auf. Viele Studien zeigen, dass eine Ernährung mit überwiegend pflanzlichen Proteinquellen gesünder ist als häufiger Fleischkonsum.
SPIEGEL: Dem Sojaprotein, das in vielen Ersatzprodukten enthalten ist, wird mitunter nachgesagt, dass es eine relevante Menge an Phytoöstrogenen enthalte – also Stoffe, die weiblichen Sexualhormonen ähnlich sind. Muss ich jetzt als Tofu-Enthusiast Angst haben, dass mir Brüste wachsen?
Smollich: (lacht) Das ist wirklich ein leidiges Thema. Was bei Männern tatsächlich zu einer Vergrößerung der Brust führt, sind Kalorienüberschuss und Alkohol. Mit Wurst und Bier bekommt man das also eher hin als mit Tofu. Auch, wenn Soja diese Stoffe in geringen Mengen enthält, ist die These schon auf den ersten Blick fragwürdig. In Asien gibt es Milliarden Menschen, die viel häufiger Soja essen. Mir wäre nicht bekannt, dass die Männer dort mit pathologisch vergrößerten Brüsten herumlaufen. Riesige Beobachtungsstudien zeigen zudem eindeutig, dass sojahaltige Lebensmittel weder bei Frauen noch bei Männern gesundheitlich bedenklich sind und etwa die Fruchtbarkeit oder Potenz beeinflussen. In einigen Studien sieht man bei Frauen, die viel Soja essen, sogar ein geringeres Risiko für Brustkrebs.
SPIEGEL: Neben der Proteinzusammensetzung ist auch die Menge an Salz oder Zucker entscheidend für gesundheitliche Aspekte. Manche befürchten, dass in veganen Ersatzprodukten zu viel davon drinsteckt, außerdem seien sie häufiger mit Mineralölen belastet. Stimmt das?
Wefers: Mineralölrückstände sind kein exklusives Merkmal von Fleischersatzprodukten, sondern ein generelles Problem bei verschiedenen Lebensmitteln. Es gibt sehr viele Wege, auf denen diese Mineralöle ins Produkt gelangen können. Ein klassischer Eintragsweg wären Verpackungen aus Altpapier, es gibt aber auch Fälle, in denen etwa belastetes Speiseöl in Produkten verarbeitet wurde. Möglich ist auch eine Umweltkontamination, etwa durch Abgase, oder ein Eintrag im Zuge der Verarbeitung. Eine Kontamination kann also bei Fleischprodukten ebenso passieren wie bei Ersatzprodukten, deshalb kann ich das als Argument gegen Ersatzprodukte nicht nachvollziehen.
2/2